Den Weg bereiten!

"Wa'etchanan"

(hatte ich zum Ewigen gefleht)
Deuteronomium / 5. Buch Mose 3:23 - 7:11

Wie mag er sich fühlen? Immerhin hat Mosche [1] mehr als vierzig Jahre seines Lebens damit verbracht, die Israeliten aus der Sklaverei und durch die Wüste zu führen. Aber nun, hier in der Araba-Wüste, kurz vor dem Ziel, hilft ihm alles Bitten nichts mehr. Auf sein flehentliches „Ich möchte doch hinziehen und das schöne Land sehen, das jenseits des Jordans liegt"[2] erhält er nur eine knappe Antwort: Kein Zutritt! Schweig! Oder im Ton des Schrifttextes: „Genug! fahre nicht fort, rede mir nicht mehr von dieser Sache!"[3]. Der ganzen Generation derer, die mit Mosche aus Ägypten ausgezogen waren[4], bleibt der Weg über das Jordantal ins gelobte Land verwehrt.

„Der Ewige ... zürnte mir euretwegen“ beklagt sich Mosche wiederholt in seiner letzten Rede an das Volk[5]. Der Anlass für diese Klage liegt etwas zurück. Es geschah nachdem Miriam gestorben war. In der Wüste Zin klagt das Volk wieder einmal über Durst und über die Beschwernisse der Wüstenwanderung. Gott fordert Mosche deshalb auf, vor den Augen des Volkes mit einem Felsen zu reden. Es werde Wasser herauskommen. Aber der setzt lieber auf Handwerk, nimmt seinen Stab und macht es so, wie es schon einmal bei anderer Gelegenheit überzeugend funktioniert hat[6]: Er schlägt den Felsen. Und tatsächlich, es kommt Wasser heraus. Das Volk ist glücklich, Gott aber nicht: “Weil ihr mir nicht geglaubt und nicht meine Heiligkeit vor den Augen der Kinder Israels gezeigt habt, darum sollt ihr diese Gemeinde nicht in das Land bringen, das ich ihnen gebe."[7]

Die Folge daraus: Alles wird neu. Eine neue Generation wird herausgefordert, etwas Neues zu wagen. Die alte wird abgesetzt. Aaron stirbt, Nachfolger wird sein eigener Sohn Eliezer[8]. Und auch Mosches Zukunft ist besiegelt. Allerdings hat er noch einen Interims-Job am Hals als 'geschäftsführende Regierung'. Führende Politiker wissen wie das ist. Sie haben zwar keine Lust mehr, nach einer Wahlniederlage als 'Lahme Enten' im Amt zu bleiben. Aber sie müssen das Haus in Ordnung halten und die Regierungsgeschäfte so lange wahrnehmen, bis die nächste Regierung ihr Amt antritt. Das gehört dazu. Sie können nicht einfach sagen: “Jetzt habe ich kein Lust mehr, ich gehe nach Hause!”

Auch Mosche erweist sich als Profi. Er stellt, obwohl er privat mit seinem Schicksal hadert, seine persönlichen Gefühle hinten an und dient den Interessen seines Volkes. Bevor sein Job ausläuft, muss er sogar noch einmal richtig arbeiten:

  • Mehrmals trägt Gott ihm Botschaften auf: “Sage den Kindern Israels, wenn sie in das Land kommen, dann...”
  • Er muss die Durchreise durch das Gebiet der Moabiter aushandeln und dafür sorgen, dass seine Männer damit aufhören, 'Unzucht' mit den Moabiterinnen und Midianiterinnen zu treiben.
  • Er muss das Volk noch einmal zählen, und zwar all jene, die in das Land einziehen dürfen.
  • Er muss Recht sprechen, als die Töchter Zelophehads vor ihn treten.
  • Er muss den Israeliten erklären, wie sie die Feiertage feiern sollen, wie und was sie opfern sollen.
  • Er muss Militäroperationen gegen den Midianiter anführen.
  • Er muss entscheiden, was zu tun ist, als 2 1/2 Stämme erklären, sie möchten auf der Ostseite des Jordans bleiben.
  • Er muss sogar die künftigen Grenzen des Landes festlegen![9]
  • Und schließlich muss er seinen Nachfolger Jehoschua[10] 'ordinieren' und ihn öffentlich ins Amt einsetzen.[11]

Er dagegen muss seines aufgeben![12] Dafür ist er nun frei, seine eigene Meinung zu äussern. Dies tut er in seiner letzten großen Rede: Er mahnt die Israeliten, beschimpft sie, spricht ihnen aber Mut zu für die großen Ereignisse, die noch vor ihnen liegen. Er berichtet, was er von Gott erfahren hat, schildert es allerdings aus seiner eigener Perspektive. Und dann zieht er sich zurück. Er wird schließlich ruhig, allein, mit Ehre und mit Würde sterben.

Oft erfährt man mehr über eine führende Persönlichkeit, wenn man sieht, wie dieser Mensch abtritt, wenn seine Zeit gekommen ist. Mosche, der 40 Jahre lang in der Wüste sowohl Gott als auch seinem Volk treu gedient hat, geht, wie es sich gehört. Nachdem sein Nachfolger im Amt bestätigt ist, überträgt er ihm sein ganzes Wissen und alle wichtigen Informationen.

Nicht jedem ist es beschieden, das angestrebte Ziel selbst zu erreichen – auch Mosche nicht. Aber jeder, der den Weg dahin vorbereitet, der sein Feld bestellt, und dann seinen Platz ordentlich räumt, damit andere den Weg weitergehen und auf dieser Basis neue Entscheidungen treffen können - der hat wirklich Dank und Ehre verdient.

[1] Mose      [2] Dewarim/Deuteronomium (5. Buch Mose) 3:25      [3] Dewarim/Deuteronomium (5. Buch Mose) 3:26      [4] Dewarim/Deuteronomium (5. Buch Mose) 1:35     
[5] Dewarim/Deuteronomium (5. Buch Mose) 1:37 und 3:26      
[6]
Schemot/Exodus (2. Buch Mose) 17:5-6      [7] Bemidbar/Numeri (4. Buch Mose) 20:12      [8] Bemidbar/Numeri (4. Buch Mose) 20:27-29    
[9] Bemidbar/Numeri (4. Buch Mose) 34:1-2       [10] Josua     
[11] Bemidbar/Numeri (4. Buch Mose) 27:18-23       [12] Im Midrasch streitet er sogar erst einmal mit Gott bevor er sein Schicksal akzeptiert, nicht einmal als 'Emeritus' in das Land einziehen zu dürfen