Jeder nach seinen Fähigkeiten!

"Ki Tissa"

(Wenn Du wirst aufnehmen wollen)
Exodus / 2. Buch Mose 30:11 - 34:35

„Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: „Siehe, ich habe mit Namen berufen Bezal’el, den Sohn Uris.... Und ich habe ihn erfüllt mit göttlichem Geist, mit Weisheit und Einsicht, mit Wissen und allerlei Fertigkeit, Sinnreiches zu ersinnen, zu arbeiten in Gold und Silber und Kupfer, sowie im Schneiden von Steinen zum Einsetzen und im Schnitt von Holz in allerlei Werk zu arbeiten. ..."[1]

Eine faszinierende Idee: Göttlicher Geist, Weisheit, Einsicht, Wissen und Kunstfertigkeit sind Geschenke Gottes? Und eine interessante Eklärung dafür, warum einige von uns kreativer sind als andere, oder besser: warum Menschen mit unterschiedlichen Begabungen ausgestattet sind. Die Tora erzählt uns das während sie gleichzeitig berichtet, dass Gott Bauabsichten verfolgt. Keine Immobilie, sondern im Gegenteil: etwas Mobiles für die Wanderung durch die Wüste, ein Zelt der Begegnung. Es soll eine tragbare Wohnstätte werden: ein mobiles Mischkan inmitten des israelitischen Lagers. Nur einige Männer sollen dafür notwendig sein, um es auf- und abzubauen, nämlich die vom Stamm Levi. Dieses Heiligtum soll dem Volk Israel Orientierung geben und seinen Priestern einen Ort, wo sie – wie ihnen gesagt wurde – den Ewigen verehren und ihm opfern können.

Der Text beschreibt recht gut, wie dieses Zelt werden soll - Gott bestimmt die Grundelemente, die Vorhänge, die Tische, Haken, Ringe und vieles andere. Damals gab es noch keine Explosionsgrafiken, keine Konstruktionszeichnungen und auch nicht die legendären Aufbauanleitungen des bekannten schwedischen Einrichtungshauses, mit denen wir Laien heute sogar komplizierte Möbel aufzubauen vermögen. Und so bleibt Bezal’el und seinen Helfern Raum für Phantasie.

Ich kann mir ihre Situation ganz gut vorstellen. Schließlich kann auch ich auf meinem Gebiet konstruieren und Möglichkeiten ausloten. Mein Werkstoff sind Wörter und Texte. Damit arbeite ich, damit spiele ich, darin erkenne ich Muster von Wortverbindungen und Wortbedeutungen. Aber woher kommen mir die Ideen? Warum bin ich gerade in diesem Bereich so einfallsreich? Geerbt habe ich das nicht. Mein Vater ist mehr wie Bezal’el. Seine Begabung liegt in den Händen. Er fertigt Möbel aus Holz, Ornamente aus Schmiede-Eisen, er kann Klaviere stimmen und Modelleisenbahnen bauen, er bastelt sogar mit elektronischen Bauteilen. Ich dagegen und meine Hände haben schon Probleme, wenn eine Glühbirne gewechselt werden muss! Und wenn ‚wir’ uns an Werkzeugen vergreifen, dann wird es finster. Dafür sind ‚wir’ offenbar genetisch nicht gerüstet.

Es gibt Menschen, die sind farbenblind, andere sind taub für bestimmte Töne. Dann gibt es wieder welche, die sind „von Natur aus“ begabt. Sie können fantastisch zeichnen oder malen, großartig komponieren, singen oder musizieren. Auch unter den Technikern gibt es Naturtalente, die fast mühelos, Maschinen zu entwickeln oder zu reparieren vermögen. Mit Disziplin, Übung und Ausbildung können sie diese Fähigkeiten verbessern und sogar perfektionieren, aber die Grundlage, die Gabe, das Talent scheint in ihnen bereits angelegt zu sein. So gibt es selbst in abgelegenen Dörfern Leute, die sich als Mathe-Genies erweisen und andere, die später Experten in Naturwissenschaften werden. Und genauso gibt es die scheinbar weltfremden Träumer, die sich auf besondere Art mit Tieren verständigen können oder solche, die den so genannten „Grünen Daumen“ für Pflanzen haben.

 Aus welcher Quelle stammen diesen Gaben? Worher stammt dieses schöpferische Potential? Die Fähigkeit, aus dem Nichts eine Idee zu gebären, aus ein paar Sachen ein Kunstwerk oder eine Maschine zu schaffen? Das sind schwere Fragen! Bei Bezal’el wissen wir es. Schwieriger aber noch sind die Fragen, die sich an jeden einzelnen mit seinen Begabungen und Möglichkeiten richten: Was kann ich damit bewirken? Was kann ich damit anstellen? Wie darf ich diese Gaben benutzen, und darf ich es überhaupt?

Gott beschreibt Bezal’el als gesegnet mit Chochma (Weisheit), Bina (Einsicht) und Da’at (Wissen) [2]). Dennoch, er, der diesen mobilen Mischkan konstruiert, entwickelt und ausgestattet hat, wird dort nicht dienen können. Dafür sind andere Spezialisten vorgesehen: die Kohanim, die Priester. Sie allerdings werden nicht nach ihren Gaben sondern nach ihren Aufgaben beurteilt. Sie müssen lernen, nicht kreativ zu sein. Statt dessen sollen sie gehorsam die Vorschriften für ihr Amt befolgen. Diese Rolle ist in einer Stämme-Gesellschaft nicht frei gewählt. Wir haben mehr Spielraum. Dennoch gilt: Wer auf einem Gebiet gut ist, muss es nicht auch in allen anderen Bereichen des Lebens sein! Und leider bekommt auch nicht jede Begabung ihre Chance zur Entfaltung. Jeder hat seinen Weg. Das gilt in vielfacher Hinsicht. Nicht jeder Mensch muss ein Heiliger sein oder gar ein Prophet oder ein Priester. Ein Handwerker und ein Künstler sind genau wie sie Zeugen des Göttlichen im Menschen. Erinnern wir uns noch einmal an den Text: Gott braucht Moses, Gott braucht Aaron, und Gott beruft Bezal’el – alle zu seinen Diensten. Jeden mit seinen ganz besonderen Fähigkeiten.

[1] Exodus 31:1-5 (nach: Die Heilige Schrift, übersetzt von Naftali Herz Tur-Sinai, Stuttgart 1993)     [2] siehe Exodus 31:3.  Von diesen Begriffen leiten die Lubawitscher Chasidim übrigens ihr unbescheidenes Akronym 'Chabad' ab. Es besteht aus den Anfangsbuchstaben von drei hebräischen Wörtern: Chochma (Weisheit), Bina (Einsicht) und Da’at (Wissen): Diese drei Begriffe repräsentieren nach der kabbalistischen Lehre drei der insgesamt 10 Stufen schöpferischer Gotteskraft.