Wo war Gott?

"Schemot"

(Namen)
Exodus / 2. Buch Mose 1:1 - 6:1

Schon die ersten Verse dieses Wochenabschnitts der Tora geben Rätsel auf. Wir sind am Anfang des Buches "Schemot"(hebr. für 'Namen') [1].  Das  zweite Buch der Tora fängt mit den Namen an, um die es in den letzten Kapiteln des Buches "Bereschit" ging: den elf Söhnen Jaakows [2], die mit ihrem Vater nach Ägypten gezogen sind und Joseph, der dort bereits zu Rang und Würden gekommen war. Alle haben sich offenbar mit ihren Familien in Ägypten dauerhaft niedergelassen, neue Familien gegründet und sich so stark vermehrt, „dass das Land von ihnen voll war" [3]“. Der Text geht zügig zu den Schwierigkeiten über, denen die Israeliten nun - etliche Generationen später - im ägyptischen Goschen ausgesetzt sind. Dabei stellen sich mehrere schwerwiegende theologische Fragen:

  • Wo war Gott in den vergangenen Jahrhunderten?
  • Was wussten die Israeliten in Mizraim [4] von ihrem Gott?
  • Warum wartete er bis die Israeliten wegen der Unterdrückung durch die Ägypter schrieen und weinten?
  • Warum ließ er zu, dass ihre Kinder ermordet wurden?
  • Ist Gott vergesslich? Warum musste er sich erst an seinen Bund [5] mit Awraham erinnern?

Was ist zu Beginn dieses Buches von dem Erzväterbund geblieben? Jitzhak hatte ihn von Awraham [6] geerbt, dessen Sohn Jaakow hat ihn sich trickreich erschlichen, und Jaakow wiederum hat ihn ganz offiziell an Ephraim, seinen Enkelsohn, weitergereicht? Nur: von Ephraim hören wir nichts mehr - sieht man einmal von der symbolischen Bedeutung seines Namens ab: doppelt fruchtbar. Ephraim ist zwischen dem ersten und dem zweiten Buch der Tora verstorben – irgendwo in Ägypten.

Jaakow verlangte noch, in Hebron begraben zu werden [7], und er wurde es auch [8]. Auch Josef verfügte, seine Gebeine nach seinem Tod irgendwann mumifiziert in sein Heimatland zurückzubringen [9]. Das Buch Joschua gibt Auskunft darüber, wo er seine letzte Ruhe fand: dort, wo sein Vater ein Grundstück gekauft hatte, in Schechem [10]. Mehr haben wir nicht. Über die Grabstellen der Brüder Josefs wird uns nichts mitgeteilt. Wir erfahren auch nicht, was die zahlreich gewordenen Kinder Jisraels über ihre Stammesgeschichte gelernt haben. Wir wissen nicht, was sie glauben, ob sie überhaupt etwas vom "Gott Awrahams" verstehen. All das aber hat Bedeutung für den Fortgang der Geschichte, vor allem für Mosche [11] und seinen Auftrag. Er soll sie zu ermutigen, Ägypten zu verlassen. Seinem Gott und in dessen Verheißungen müssen sie vertrauen, das aber fällt ihnen schwer.

Nun, ganz ohne Wurzeln sind sie nicht. Wir bekommen ein paar Hinweise aus dem Text. Die zwei hebräischen Hebammen fürchten Gott [12]. Aber was bedeutet das? Was hat man ihnen beigebracht? Wer hat es getan? Wenn sie etwas wussten, wussten es die anderen auch? Hatten die Israeliten zu dieser Zeit schon Priester? Oder Lehrer? Oder haben die Erstgeborenen oder die 'Ältesten' diese Aufgabe übernommen? Später im Buch - in der Wüste – lesen wir [13], dass die Israeliten etwas verstanden von Götzenbildern und Opferritualen – woher auch immer. Auch Mosche wusste Bescheid über die technischen Finessen der Ritualien. Er wusste, was gebraucht wird, wie die Priesterkleidung auszusehen hat und auch, was zu tun ist, als Gott ihm sagte: „Mache für mich einen Altar" [14]. Gott muss Mosche nicht erklären, was ein Altar ist und wofür er zu benutzen ist – nur: wie er nicht sein soll und wie er sich ihm zu nähern hat.

Wo also war Gott? Diese Frage ist uns durchaus vertraut. Wo war Gott während der Schoa? Gott hört alles, sagt der Volksmund. Aber hört Gott auch zu? Wie laut muss man schreien, wie schlimm muss die Situation sein, bevor er etwas wirklich wahrnimmt? Das sind unbequeme Fragen, aber sie liegen auf der Hand. Zurück zur Geschichte: Die Israeliten sind in Ägypten keine willkommene Gäste mehr. Sie werden gefürchtet, es werden Maßnahmen ergriffen, um ihre Zahl mit Gewalt zu begrenzen und zu reduzieren. Wir kennen das Muster aus der Gegenwart. Zuerst werden Ausländer als Gastarbeiter oder Asylsuchende benötigt, und dann - dann werden sie angeblich zu einer Last. Die Gesellschaft sieht eine Gefahr in ihnen. Ob das stimmt oder nicht ist nebensächlich. So werden sie gesehen.

Die Israeliten haben zwar einen starken Verbündeten: Gott. Aber das hilft ihnen offensichtlich nicht? Als ihre männlichen Säuglinge in den Fluss geworfen wurden, greift er nicht ein. Er lässt es geschehen, dass sein Volk in die Sklaverei gerät und schwere Fronarbeit verrichten muss. Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass die Familien der Israeliten leiden und alle Hoffnung verlieren.

Dass Gott einen Plan hat, dem man vertrauen kann, können eigentlich nur die wissen, die 'das Buch des Bundes' [15] bereits haben und mit ihm vertraut sind. Die Israeliten in Ägypten hatten die Tora noch nicht. Erst am Horeb, mitten in der Wüste Sinai, wird sie ihnen gegeben und vorgelesen. Dass Mosche ein Bote Gottes war, war für die Generation derjenigen, die den Exodus und vierzig Jahre Wüste mitgemacht hat, nicht offensichtlich. Im Gegenteil, Mosches Initiativen machten ihr Los noch ärger – zunächst in Ägypten und dann auf einer äußerst strapaziösen, jahrelangen Wüstenwanderung. Dieses Volk, das mehrmals seinen Unmut über die ihm manchmal ziellos erscheinende Wanderung äußerte, sahen die Rabbinen des Talmud eher negativ [16]. Ich dagegen kann es recht gut verstehen.

Es sieht so aus, als hätten wir es heute leichter. Wir haben das Sedermahl, wir haben Rituale der Erinnerung, wir haben die Haggada. Wir können uns den Exodus - die Geschichte vom Auszug aus Ägypten - nicht nur erzählen – mit Happy End -, sondern sie selbst noch ausgestalten und hübsch verpacken. Und dabei schauen wir zurück. Wenn man selbst eine Flucht durchlebt oder einen Krieg, dann weiß man noch nicht, wie das ausgehen wird. Wer noch mitten in einer Krise steckt, für den ist die Zukunft unklar. Ich denke, diese verzweifelten Israeliten haben mehr Verständnis verdient.

Und heute? Wo ist der Bund jetzt? Was ist unsere Aufgabe? Wie haben wir diesen Bund geerbt, und wie vererben wir ihn? Wie geben wir ihn an die nächste Generation weiter, damit diese nicht in die Wüste stehenbleibt? Es bleiben viele Fragen offen!

[1] Andere geläufige Bezeichnungen: 2. Buch Mose, Buch Exodus    [2] oder  'Jakob'   
[3] Exodus 1:7    [4] hebr. für Ägypten    [5] Genesis 15:7ff.,18ff.    [6] oder 'Abraham'   
[7] Genesis 49:29    [8] Genesis 50:7-14   [9] Genesis 50:24ff.    [10] Josua 24:32   
[11] oder 'Mose'   [12] Exodus 1:15     [13] Exodus 32:1-8    [14] Exodus 20:21ff.   
[15] Exodus 24:7    [16] Traktat Schabbat 88a