Traumbilder und Welthunger

"Mikez"

(Nach Verlauf)
Genesis / 1. Buch Mose 41:1 - 44:7

Den König im Lande Mizraijm [1] plagen Alpträume. Zwei hat der Pharao in einer Nacht: Im ersten steigen sieben kräftige und gesunde Kühe aus dem Nil und weiden auf den Wiesen. Doch sie werden von sieben anderen schwachen und mageren Kühen, die nach ihnen ebenfalls aus dem Fluss steigen, gefressen. Doch die wurden davon nicht kräftig und stark. Der zweite Traum beginnt damit, dass auf einem Getreidehalm sieben reich tragende Ähren wachsen. Aber sie werden von sieben dürren, vom Ostwind ausgedörrten Ähren verschlungen, die nach ihnen wachsen. Doch diese Ähren werden davon nicht prall.[2] In beiden Fällen fängt es gut an, aber es endet so nicht. Zweimal Sieben – und das gleich zweimal! Der Pharao ist beunruhigt und sucht nach einer Erklärung.

Träume haben etwas zu sagen. Psychologie und Psychoanalyse haben für unsere Zeit gelehrt, dass sie aus unserem Inneren sprechen, dass sie Lebenserfahrungen verarbeiten: intensive Erlebnisse, unsere Sorgen, das, worauf wir hoffen und wovor wir uns fürchten. Für uns sind Träume Ausdruck unserer persönlichen Vergangenheitsbewältigung - als einer Voraussetzung, um unsere Zukunft zu meistern. Die Menschen des Altertums dagegen verstanden die Geschichten, die sie im Schlaf  überraschten, als Botschaften von Außen – als Werke höherer Mächte. Oder wie Josef in unserem Wochenabschnitt zitiert wird: „Gott wird offenbaren, was ihm frommt"[3]. Träume warnten und offenbarten. Sie öffneten einen Blick in die Zukunft.

Josef, so wird uns schon vorher berichtet, ist jemand, der nicht nur die Träume seiner Mitmenschen zu erklären vermag, sondern der selbst solche Träume hat.[4] Seine Brüder ziehen aus einem seiner Träume Konsequenzen und verkaufen ihn als Sklaven nach Ägypten. Sein Traum beginnt hier wirklich zu werden. Am Ende werden sich die Brüder, wie geträumt, vor ihm, Josef, dem 'Zafenat-Paneach'[5], verneigen.

Josef hatte die beiden Bilder von Pharaos Traum als zwei sieben Jahre währende Perioden gedeutet: eine erste mit satten Weiden und Ernteüberschüssen und eine zweite mit dürren Ernten und Hungersnöten. Und er hatte einen Vorschlag gemacht, wie diese Zeit zu bewältigen ist: Man solle einen klugen Mann an die Spitze des Staates stellen, der eine strategische Vorratsplanung betreibt. Der Mann an der Spitze wurde er – Josef der Träumer[6]. In den üppigen sieben Jahren ließ er Vorräte anlegen, in den folgenden dürren Jahren konnte das Volk Lebensmittel aus den Speichern erwerben - unter Aufbringung ihres Ersparten, dann durch Verkauf von Land und Besitz an den Pharao und schließlich durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft.[7]Für uns wird es interessant, wo die beiden Träume, der Traum Josefs und die beiden des Pharaos, sich zu einem Strang vereinen:  In der ganzen damals bekannten Welt herrscht Hungersnot - auch im Land Kenaan. Die Kunde, dass es in Ägypten – trotz der Dürre – noch etwas zu kaufen gibt, lässt auch die Söhne Ja’akows[8] auf die Esel steigen und mit einer Karawane nach Ägypten ziehen. Und dort dann nimmt eine größere Geschichte ihren Anfang, aber es ist nicht die einzige. Unsere Parascha wirft viele Fragen auf:

  • Gegen wen richtet sie sich dann und für welche Untaten? Hat der Pharao sich etwas zuschulden kommen lassen oder die anderen Herrscher der Umgebung? Was haben der einfache Bauer oder der Viehhirte und deren Familien damit zu tun? Im Text ist von Strafe keine Rede, und doch erinnert die Prophezeiung und ihre ausdrückliche Bekräftigung in zwei aufeinander folgenden, gleichbedeutenden Träumen an die zehn Plagen, die im Buch Schemot die Ägypter treffen, bevor sie die Israeliten ziehen lassen[9]. Wenn diese Hungersnot als Strafe gegen die Brüder Josefs gerichtet war, warum sind dann die Völker der ganzen Region betroffen[10]?
  • Wie ist die Sklaverei zu beurteilen, über die Israeliten später so klagen? Es war der "Premierminister" Josef, der die Leibeigenschaft während der Hungersnot in Ägypten eingeführt hatte.[11]  Das Land war zwar auf die Dürre vorbereitet, weil Josef in den guten Jahren die Getreidespeicher füllen ließ. In den mageren aber mussten die Ägypter dafür bezahlen und schließlich alles verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern – einschließlich des verbliebenen Viehs, ihrer Felder, ihres Grundbesitzes und ihrer Arbeitskraft. So wurden sie zu mittellosen abhängigen Staatsdienern, die zwanzig Prozent ihrer Ernten an den Pharao abführen mussten.
  • Gab es einen Plan Gottes, Josef nach Ägypten zu schicken? Auch ins Gefängnis, damit er Pharaos Traum deuten kann? Wäre es nicht so, wozu wären die Träume des Landesherrschers dann nützlich gewesen, wenn keiner sie zu interpretieren vermag? Und wenn es also einen Plan gab, diente das ganze Elend nur dazu, die Brüder Josefs zu prüfen? Mit der Folge, dass die sich später einem ihnen unbekannten ägyptischen Beamten beugen müssen? Auch wenn dies in Josefs Traum[12] vorausgesagt wurde, so ist es für mich theologisch doch problematisch. Ich habe darauf keine Antwort. Hunger, Elend, Angst, Versklavung, Tod, das kann doch nicht alles nur in der Bibel stehen, damit wir nette Geschichten zu lesen haben!
  • Wir können diesem Wochenabschnitt auch zeitgenössische Themen entnehmen:
    • Was passiert in einem Land, wenn es nicht genug zu essen gibt?
    • Welche Rolle spielt der Staat, oder ausländische Experten, Forscher und Berater?
    • Wie teilt man die Vorräte, nach welchem System?
    • Wo bleibt die Gerechtigkeit? Die Leute bezahlen mit barem Geld, um zu kaufen wofür sie schon Steuern gezahlt haben.
    • Wie geht man mit Ausländern um, die ins Land wollen, um schwere Zeiten zu überleben?
    • Welche Menschheits-Verantwortung haben in einer globalisierten Welt Länder zu tragen, die noch Lebensmitteln haben, gegenüber denen, die nichts haben?
    • Welche Rolle spielen die Familie, oder der Stamm?
    • Und schließlich: Welche Rolle spielt Gott? (Interessant, das wir dafür das Wort 'spielen' benutzen, als wäre das alles nur Theater.)

Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern ist ein großes Drama um Neid, Hass, Intrigen, Mordplänen, Visionen, Überleben, neuen Identitäten, Karriere, Gründung einer eigenen Familie, Wiederentdeckung, Wiedersehen, Versöhnung und Rettung.  Aber das Szenario spielt sich vor dem Hintergrund einer gewaltigen Katastrophe ab, einem Alptraum: Welthunger. Das darf man nicht vergessen.

[1] hebr. für Ägypten      [2] vgl.  Bereschit/Genesis 41:1-7      [3] Bereschit/Genesis 41:16      [4] vgl.  Bereschit/Genesis 37:5ff. und 40:5ff.    [5] wahrscheinlich altägyptisch für „Gott spricht, er möge leben“.       [6] Bereschit/Genesis 37:19      [7] Bereschit/Genesis 47:13-26      [8] Jakob      [9] vgl. Schemot/Exodus 7:1 – 12:51      [10] vgl.  Bereschit/Genesis 41:54     
[11] vgl.  Bereschit/Genesis 47:20-26      [12] vgl. Bereschit/Gen. 37:6 ff.