Bleiben? Von Dürre und Regen.

"Toledot"

(Geschlechterfolge)

Genesis / 1. Buch Mose 25:19 - 28:9

“Wajhi Ra’av baAretz, milvad haRa’av Harischon, ascher hajah bijmei Awraham....”  “Und es war Hungersnot im Lande, eine andere als die frühere Hungersnot, die in den Tagen Abrahams gewesen..."[1] Wieder mal so ein typischer Tora-Text. Pure Fakten, trocken, kryptisch und kurz. Zu kurz.

Es wird kein Grund für diese Naturkatastrophe genannt und was sie von der früheren unterscheidet. Mit keinem Wort wird erwähnt, was sie für die Bevölkerung bedeutete, oder welche Auswirkungen die Hungersnot wirtschaftlich und politisch hatte. Dafür können wir nur unsere eigene Fantasie in Anspruch nehmen. Wir kennen die täglichen Bilder aus den Nachrichten: hungernde Kinder, verweste Tierkadaver, ausgetrocknete Felder. Die meisten Menschen werden hoffnungslos und apathisch gewesen sein.

Jitzchak [2] handelt. Er entscheidet sich, den Wohnort zu wechseln und zieht mit seiner Familie und seiner Herde nach Gerar, einer Region südöstlich von Gaza und nordwestlich vom heutigen Beerscheba. Dort lebt er als Flüchtling, als ein mittelloser Wanderer auf die Suche nach Nahrung. Er hatte vor, eine bessere Alternative anzusteuern - weiter westlich in der Nähe des Nildeltas. Doch er nimmt die göttliche Stimme wahr, die ihn auffordert, nicht bis Ägypten zu ziehen, sondern in Gerar zu bleiben: "Halte dich in diesem Lande eine Zeit lang auf, so will ich mit dir sein und dich segnen; denn dir und deinen Nachkommen will ich alle diese Länder geben und den Schwur aufrecht halten, den ich deinem Vater Abraham geschworen."[3]

Weshalb soll Jitzchak in einem Land bleiben, in dem sich schon wieder eine Dürre ausbreitet? Es regnet nicht. Das Gras verdorrt, das Vieh stirbt und auch die Menschen sind bedroht. Jitzchak kann für seine Familie und seine Herden in Gerar vermutlich nur in ausgetrockneten Wadis nach Wasser graben. Die Wasserversorgung im Norden Ägyptens wäre verlässlicher gewesen, wenn auch nicht so üppig wie im Garten Eden,[4] im Paradies [5]. Vier Flüsse soll es dort gegeben haben, unvorstellbar in Gerar am Rande der Negevwüste.

Wasser ist unverzichtbar zum Leben, allerdings ist es weltweit knapp, und erst recht im Nahen Osten. Das ist auch der Grund dafür, dass wir

  • in der Amida (dem Achtzehngebet) bis heute im Winter für Regen beten und im Sommer für Tau, und
  • im Schma-Gebet (Höre Israel) an die Strafen erinnert werden, die Gott androht, wenn wir seine Gebote nicht einhalten: "Er würde den Himmel verschließen, dass kein Regen komme."[6]

Aber in diesem Text geht es nicht um Strafe. Gott droht Jitzchak nicht. Im Gegenteil, er macht ihm Mut, gibt ihm Hoffnung und verspricht ihm eine segensreiche Zukunft und viele Kinder – auch unter diesen schwierigen Bedingungen.

Wir wissen heute, dass es nicht die letzte Hungersnot in dieser Region war. Gleich zu Beginn im Buch Ruth wird beschrieben, wie Elimelech mit seiner Familie wegen einer Hungersnot aus Bethlehem ostwärts ins klimatisch etwas freundlichere Moab flieht. Nach Abraham und Jitzchak ist auch Jakob von einer solchen Wetterkrise betroffen [7]. Er, seine Söhne und Familien wandern schließlich doch nach Ägypten aus. Und das, obwohl die Dürre auch vor dem Land Mizraim [8] nicht Halt gemacht hat [9]. Allerdings kann ihm ein enger Verwandter Quartier machen. Joseph, einer der Söhne Jakobs, hatte dort auf der Flucht vor seinen rachsüchtigen Brüdern seine Zuflucht gefunden und nimmt mittlerweile eine hohe Stellung am Hofe des Pharao ein. Er kann seinen Angehörigen nicht nur bei der Einwanderung helfen, sondern darf ihnen auch ein gutes Siedlungsgebiet zuweisen.

Eine Dürre kommt nicht über Nacht und eine Hungersnot breitet sich schleichend aus. Sie kommt nicht wie ein Erdbeben oder eine Flutwelle, sondern allmählich. Zuerst genießt man noch die Sonne, dann schaut man in den blauen Himmel und sucht eine Wolke. Man wird allmählich sparsamer, dann greift  man auf die Reserven zurück und hofft auf bessere Zeiten. Monatelang. Man wartet, zweifelt, wartet wieder, zweifelt und hofft wieder – und immer wieder, bis alle Ressourcen verbraucht sind, auch die eigenen Kräfte und die Hoffnung. Wie feiert man unter diesen Umständen die klassischen Wallfahrtsfeste mit ihren Anklängen an die verschiedenen Ernteperioden? Wie begeht man Pessach [10], Schawout [11] oder Sukkot [12] wenn so gut wie keine Ernte eingefahren wurde?

Was ist, wenn die Trockenheit vorbei ist? Auch wenn es wieder regnet, ist nicht gleich alles wieder gut. Das Land braucht Zeit, um sich zu erholen. Außerdem gibt es kaum oder nur wenig Saatgut, und die Menschen, die überlebt haben, sind schwach. Der erste Regen ist vielleicht gar kein Segen, sondern eine weitere Katastrophe.

Im Bund zwischen Gott und Israel spielt Regen eine wichtige Rolle – Regen zur richtigen Zeit und in der richtigen Menge [13]. Im Talmud verdeutlicht das eine Debatte darüber, wie viel Regen richtig ist [14]. Zur Illustration wird von 'Honi dem Kreiszeichner' erzählt. Er betet vor Gott für das Volk um Regen und handelt in dessen Namen in vier Schritten das richtige Maß aus: Erst kommt zu wenig, nur ein schwaches Tröpfeln, dann gießt es wie aus Eimern – so viel, dass der Boden, auf dem etwas wachsen soll, weggeschwemmt wird. Schließlich regnet es sogar in der rechten Weise, aber es hört nicht auf. Erst nach einem Dankopfer findet der Regen ein Ende.

Es ist deshalb zu einfach, diese Wörter nur flüchtig wie eine Nachrichtenzeile zu lesen: 'Aha, da gab es mal wieder eine Hungersnot im Lande', und dann schnell zum interessanteren Teil der Erzählung überzugehen. Nein, dieser Zusammenhang ist wichtig, denn er verbindet sich mit einem Versprechen. Gott verheißt ein Land – das gelobte Land. Doch auch dieses 'Land wo Milch und Honig fließen'[15] ist ein hartes Pflaster. Es kann seine Einwohner offensichtlich nicht permanent ausreichend ernähren. Und von Milch und Honig ist nicht viel zu sehen. Es ist ganz sicher nicht das Paradies. Es gibt nicht viel und zeitweilig eben nichts – weniger als nichts. Und trotzdem soll Jitzchak nicht fortgehen. Warum? Darauf gibt es keine Antwort. Jitzchak wird aufgefordert zu bleiben, aber schon sein Sohn Jakob darf mit Mann und Maus nach Ägypten ausreisen. Ein Widerspruch?! Sicher, aber es ist nur einer unter vielen. Erst viele Generationen später, berichtet die Tora, wird Mosche die Kinder Israels langsam und über viele Umwege auf dem rauen, unbequemen Pfad durch die Wüste zurückführen nach Kanaan – ins gelobte Land.

Und was ist mit diesem 'Gelobten Land' heute? Wasser ist immer noch knapp im Nahen Osten, auch wenn in Israel diese Knappheit gut organisiert ist. Vielleicht ist das Land deshalb heute sogar eines, wo Milch und Honig fließen – verglichen mit einigen Ländern in seiner Nachbarschaft. Aber das gilt nicht für alle. Auch zwischen Haifa und Eilat gibt es Armut und Familien, die Hilfe brauchen, um sich unterhalten und ernähren zu können. 'Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral', singen Mackie Messer und Jenny in Brechts Dreigroschenoper. 'Bleibe hier!', spricht Gott zu Jitzchak in der Tora. Viele Israelis würden das Land gern verlassen - weg von der Klaustrophobie, weg von den endlosen Feindschaften, weg von den Angreifern und von der Bedrohung. Und doch: Es ist das Land Israel, das verheißene Land.

Regen als Segen. Auch heute ist das nicht zu unterschätzen.

[1] Bereschit / Genesis 26:1      [2] Hebräisch für 'Isaak'      [3] Bereschit / Gen 26:2     
[4] Bereschit/ Gen 2:11    [5] Aus dem Avestischen, einer altiranischen Sprache: ein „umgrenzter Bereich“      [6] Dewarim / Dtn 11:17     
[7] Bereschit / Gen 41:54      [8] Hebräisch für 'Ägypten'     
[9] Vgl. Bereschit / Gen 47:13     [10] Ernte des Wintergetreides     
[11] Weizenernte      [12] Ernte der Feld- und Baumfrüchte     
[13] Wajikra / Levitikus 26:4      [14] Traktat Ta’anit III:23a     
[15] Schemot / Exodus 3:8