Vom weiten Wasser zum 'eigenen' Land.

"Noach"

(Noach / Noah)
Genesis / 1.Buch Mose 6:9 - 11:32

Eine gewaltige Katastrophe! Die Sintflut war zerstörerisch. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, war sie ein Akt der Vernichtung. Die Wiedervereinigung der Meere, Seen, Flüsse, Bäche und Pfützen von unten mit Wolkenbrüchen und heftigem Dauerregen von oben zu einem einzigen unendlichen Gewässer machte Stufe Zwei der Schöpfung (Genesis 1:6-8) rückgängig. Gott vertilgte alle Lebewesen auf der Erde bis auf ein paar in einer kleinen Holzkiste, der Arche. Diese 'Nuss-Schale' dümpelte reichlich verloren auf dem großen Wasser als Reserve für einen zweiten Versuch.

Und dann? Was geschah danach? Die Arche landete, die Erde trocknete wieder, die Tiere verließen die Kiste – und was machten dann die Menschen? Noach [1] und seine anonyme Frau, die drei Söhne mit ihren anonymen Frauen? Wie sah der Wiederaufbau aus?

Wir können uns das Geschehen nur am Beispiel von Naturkatastrophen vorstellen. Aus aktueller Erfahrung wissen wir, dass nach großen dramatischen Zerstörungen wie Tsunamis, Waldbränden, Vulkanausbrüchen oder Erdbeben das Interesse schnell aufhört wenn die Keller ausgepumpt, die Feuerwehrschläuche wieder eingerollt, die Hundestaffeln in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, die Fernsehkameras abgezogen sind und die Journalisten ihre Stories im Kasten haben.

Anschließend steht die wirkliche Arbeit an, der Wiederaufbau. Darüber erfahren wir in dieser Parascha praktisch nichts – doch, etwas gibt es: Gott erteilt Noach und seiner Familie den Auftrag zur Wiederbesiedelung der Erde. Darüber hinaus erfahren wir nur noch, wie lange Noach nach der Flut gelebt hat - und eine peinliche Episode: Deprimiert, hilflos, halbnackt und betrunken vom Wein in seinem neu gepflanzten Weinberg findet ihn sein Sohn.[2] Den verflucht er dafür, und spaltet in seiner Wut die eigene Familie [3]. Kein guter Neuanfang. Noach ist offenbar auch nicht perfekt. Er ist kein Held und erst recht kein Heiliger. Die Tora beschreibt ihn wunderbar relativierend als 'untadelig in seiner Zeit' [4]. Die Rabbinen [5] dagegen waren sich einig: In anderen Zeiten wäre er nicht der Erwähnung wert gewesen.

Die beiden letzten Kapitel dieses Wochenabschnitts nach Flut und Regenbogen konfrontieren uns mit einer verwirrenden Geschlechterfolge der Nachkommen Noachs [6]. Die Tora erzählt uns, dass die Erdbevölkerung in ihrer ganzen Vielfalt auf seine dreo Söhne zurückgeht [7]. Wir müssen diese Genealogie nicht wörtlich nehmen. Das wäre fundamentalistisch und ließe sich historisch nicht belegen. Wichtig ist biblische Kernaussage: Wir haben alle die gleichen Stammväter – für rassistische und abwertende Klassifikationen von Menschen gibt es also keine Grundlage.

Diese Idee eines gemeinsamen Familienstammbaums der Völker wird im 10. Kapitel bearbeitet anhand der Söhne, Enkel, Ur- und Urur-Enkel Noachs. Zuerst lernen wir die Söhne von Noachs Sohn Japhet kennen und sogleich darauf die nächsten Generationen. Bei Japhets Sohn Javan wird bereits von Völkergruppen gesprochen und auch bei Noachs Sohn Ham [8]: Aus ihm sollen u.a. Mizrajim (Ägypten) und Kanaan hervorgegangen sein, und Kusch. Von Kuschs Söhnen wird Nimrod hervorgehoben, weil er der erste war, der wirklich Macht hatte – der Text nennt ihn einen 'Gibor' auf Erden, also einen Gewaltigen oder Starken oder sogar einen Tyrannen. Auf ihn soll das babylonisch-assyrische Reich zurückgehen, und er wird in diesem Wochenabschnitt als Gründer von Großstädten wie Ninive erinnert – einer Stadt, die im TaNaCh [9] häufiger eine Rolle spielt. Mizraijm werden sieben Völker zugeschrieben, darunter die Philister. Und Kanaan werden Völker vom Libanon bis Gaza zugeordnet, einer Region, die bis heute umkämpft und umstritten geblieben ist. Noachs Sohn Sem gilt als Urvater  der Aramäer und der Assyrer. Von Sems Sohn Aram zweigen sich vier Völker ab; von Arpachschad kommt Schelach, von ihm Eber, von dem wiederum Peleg und Joktan. Und in der Zeit von Peleg „spaltete sich die Erdbevölkerung" [10].  Von Joktan, erzählt uns der Text, stammten andere, die herrschten „bis zum Gebirge des Ostens“ (Ist vielleicht sogar der Himalaja gemeint?).

Und schon sind wir in der Weltgeschichte ein erhebliches Stück weiter: Plötzlich geht es nicht nur um eine Familie und deren Nachkommen, sondern um ganze Völker. Als dann zu Babel ein gewaltiger Turm gebaut wird, bekommen wir einen ersten Vorgeschmack auf das, was Theoretiker und Politiker heute 'Globalisierung' nennen. Wir stehen plötzlich vor unermesslich vielen Fragen, von denen nur einige in diesen Kapiteln angesprochen werden können:

  • Wie kam es dazu, dass es auf der Welt so viele unterschiedliche Menschentypen gibt? Die Unterschiede in Hautfarbe, Haarfarbe und Gesichtsformen sind offensichtlich, obwohl sich all diese Menschen biologisch sehr ähnlich sind. Dafür sind die Kulturen der Menschen sehr unterschiedlich.
  • Wie entstand diese enorme Vielfalt der Sprachen? Einige sind offensichtlich eng miteinander verwandt, andere überhaupt nicht?
  • Wie kam es zu so vielen Schriftzeichen?
  • Wie kam es zu den differierenden sozialen Systemen?
  • Sind wir alle eine große Familie? Mit all den Problemen, die Familien haben? Wenn es so ist, dann sind die Nachkommen der Griechen und der Römer mit denen der Afghanen verwandt. Das gilt übrigens auch, wenn wir der modernen Theorie folgen, dass die Menschheit ihre Ursprünge in einer kleinen Familie von Homo sapiens hat, die irgendwo aus Kenia kam. Wir sind tatsächlich alle irgendwie miteinander verwandt.
  • Wieso gab es einige Jahrtausende später Menschen und Zivilisationen nördlich den Alpen? Wie überraschend muss das für die ersten Entdecker und Welteroberer gewesen sein als sie auf anderen Kontinenten Menschen vorfanden, die klein oder groß, schwarz oder rot  oder auf andere Weise anders als sie selbst waren! Menschen die nie zuvor von Gott oder Noach gehört hatten!! Kein Wunder, dass sie diese neu-entdeckten Länder eine 'Neue Welt' nannten.

 Aber schon früh gibt es Stammesoberhäupter, Könige und Herrscher, die nicht nur wie Seefahrer freudig von 'Land in Sicht' sprachen, sondern von 'Meinem Land'. Die Erde, die einst total unter Wasser stand, wurde schon bald aufgeteilt in Herrschaftszonen, Besitztümer und Königreiche.

Später dann trennten sie sich nach Sprachen, Regionen und Kulturen. Sie zogen Grenzen und hüteten sie. Aber es gab auch stets Menschen, die über die Grenzen hinweg schauten und sich nicht an sie hielten –weil sie Händler waren oder neugierig, weil sie wissen wollten, wie Menschen anders denken, anders sprechen und anders beten.

Als die Erde in 'Länder' geteilt wurde, schufen wir 'Ausländer'. Und seitdem ist es für Gott nicht mehr nötig, Menschen oder die Menschheit zu vernichten. Die Menschen, die Menschheit vermag das heute ganz alleine.

[1] Noah      [2] Bereschit/Genesis 9:20-24      [3] Bereschit/Genesis 9:25-27     
[4] Bereschit/Genesis 6:9      [5] 'Rabbinen' (nicht 'Rabbiner'!) nennt man im Plural die großen jüdischen Gelehrten der Antike sowie der mischnaischen und talmudischen Periode (1. Jhdt. v.Z. bis 5 Jhdt. n.Z.). Eine Diskussion über Noach wird in verschiedenen Midraschim geführt.     [6] Bereschit/Genesis 10      [7] Bereschit/Genesis 9:19      [8] Bereschit/Genesis 10:6-20     
[9] Akronym für die hebräische Bibel, bestehend aus Tora (Weisung), Nevi’im (Propheten) und Ketuvim (Schriften).      [10] Bereschit/Genesis 10:25