Es bleiben Fragen offen!

"Bereschit

(Im Anfang)
Genesis / 1. Buch Mose 1:1 - 6:8

Immer, wenn es etwas zu erzählen gibt, stellt sich zuerst diese Frage: Womit soll ich beginnen? Wann hat es begonnen? Wo, wann, wie ging es los? Bei jeder Geschichte ist das so und bei jedem Buch. Und manchmal drängt sich eine weitere Frage auf: „Was war davor? VOR dem Beginn?“ Was war, bevor überhaupt irgendetwas anfangen konnte?

Die ersten Worte der Tora sind vieldeutig - „IM Anfang“ (hebräisch: Bereschit). Außerhalb aller uns bekannten Dimensionen hat ein Schöpfer entschieden „Es geht los!“. Aber während wir die ersten Wörter lesen, befinden wir uns schon mitten IM Prozess der Schöpfung: „Im Anfang schuf Gott...“ einfach alles! Das bedeutet, Gott war schon vor aller messbaren Gegenwart gegenwärtig.

Die Tora beginnt mit einem Gedicht, und das beantwortet knapp und poetisch bereits „letzte Fragen“. Sie beginnt mit Metaphysik - nicht mit grausamen Geschichten von grausamen Göttern, die miteinander in grausame Kämpfe verstrickt sind, und die sich gegenseitig grausam töten. In den ersten Versen der Tora werden nicht sogleich menschliche Egomanien und Revierkämpfe in den Himmel gespiegelt. An den Anfang stellt die Tora vielmehr den Willen zu schaffen: Es gibt ein Prinzip und einen Plan! "Es soll sein!" Und es ward so. Am Anfang steht einzig Einer – allein: Gott!

Wir hier – jetzt und heute – sind nicht nur Erben dieses Plans, wir sind ein Teil davon. Wir existieren nicht aus Zufall. Wir sind nicht bloß die „Überreste“ eines großen Knalls oder die Folgen der Verklumpung von kosmischem Staub. Wir haben einen Zweck! Wir waren und wir sind erwünscht! Das ist ein Trost. Die Tora weist uns auf den Sinn menschlichen Lebens hin – gleich am Anfang. Aber wo ein Anfang ist, gibt es auch ein Ende. Das gehört dazu. Nur Gott ist ewig, nur er hat keinen Anfang und kein Ende. Die Welt ist anders!

Die Naturwissenschaftler beschreiben die Geschichte der Erde und des Weltalls weniger poetisch, und die Denkfiguren für ihre Theorien sind andere. Die Physik kann allerdings eine Menge nicht erklären. Es bleiben Fragen offen. Damit sind wir wieder bei der Metaphysik. Wo kommt die Materie her!? Die Materie, die sich nach einem explosionsartigen Urknall langsam gesammelt haben soll, muss schon in irgendeiner Form vorhanden gewesen sein. Was führte zu organischem Leben? Woher kam der Lebenstrieb, die Kraft, das Etwas, das leblosen Stoff veranlasste, sich selbst zu bewegen, zu atmen, sich zu ernähren, sich fortzupflanzen, zu lernen, zu denken und zu fühlen? Und warum gibt es die unterschiedlichsten Arten von Leben? Was führte zu dieser Vielfalt des Lebendigen:  zu Viren, Bakterien, Insekten, Pflanzen, Pilzen, Fischen, Reptilien, Vögeln und Säugetieren?

Sind diese Fragen wichtig? Ja und Nein. Man kann unbeschwert leben, ohne darüber nachzudenken. Man muss sich nicht damit beschäftigen. Aber trotzdem, jeder der denken kann, stößt irgendwann auf solche Fragen. Wann fing alles an? Woher bin ich gekommen? Und wohin werde ich gehen?

Der Tora beginnt eigentlich sogar mit ZWEI Texten zur Schöpfung. Vielleicht soll uns das darauf aufmerksam machen, dass es nicht um die Vermittlung naturwissenschaftlichen Wissens geht, sondern um Erfahrung. Die erste Version (Genesis 1:1 – 2:3) versucht auf kosmische Art und Weise zu erklären: Licht, Himmel und Erde, Sterne und Sonne, Meere, Berge, Pflanzen, Vögel, Groß- und Kleintiere und zuletzt den Ursprung des Menschen. Die zweite Version  hat einen einfachen Ausgangspunkt (Genesis 2:4 – 25), und von diesem aus extrapoliert sie die ganze Geschichte des Menschen als die eines Lebewesens, das Beziehungen pflegt, Entscheidungen fällt, Gefühle hegt, Kinder zeugt, Familien aufbaut, Verpflichtungen eingeht, für seinen Lebensunterhalt arbeitet und Verantwortung trägt. Da sind wir mittendrin im menschlichen Leben.

Nicht alles läuft nach Plan. Jedenfalls nicht in der zweiten Schöpfungsgeschichte. Sogar Gottes Allmacht hat Grenzen! Er hat den Menschen Freiheiten gegeben, aber die haben sich auch Freiheiten genommen. Nun können und dürfen sie selber denken. Sie müssen unterscheiden zwischen Gutem und Bösem. Sie dürfen Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufbauen, sollen es sogar und brauchen sich nicht nur auf ihren Schöpfer zu beschränken. Mit anderen Worten: Wir sind zwar „Kinder Gottes“, aber nicht seine Kleinkinder. Im Gegenteil. Man muss eigentlich erwachsen sein, um diese Geschichten in Bereschit lesen, analysieren und verstehen zu können. Jedenfalls hilft es, Lebenserfahrungen gemacht zu haben – ähnlich wie Adam und Eva: mit Beziehungen zu Eltern, Partnern und Kindern, mit Bosheiten, die einem widerfahren sind und solchen, die man selbst verteilt hat. Es hilft, zu wissen, wie es sich anfühlt, betrogen, bestraft, vertrieben oder entrechtet worden zu sein – aber auch Glück erlebt zu haben, Freude und Überschwang. Das Gute und das Böse erinnern uns: wir sind sterblich. Die Idylle im Garten Eden währte nur kurz. Es gibt hier kein Paradies mehr - und selbst dort gab es Schlangen und Lüge und Schmerzen und Betrug!

Es hat also begonnen. Der Anfang liegt längst hinter uns. Die Geschichte geht weiter. Und auch wir können nicht anders. Wir lesen die Tora von Neuem: „IM Anfang...“. Für wie lange noch? Aha - noch eine metaphysische Frage…